
Interview mit Erik Liegle über moderne Krisen, Organisationen unter Druck und die echte Resilienzdividende
Herr Liegle, wenn Sie auf die letzten Jahre blicken: Was hat sich im Resilienz- und Krisenmanagement am stärksten verändert?
Das deutlichste Merkmal ist die Gleichzeitigkeit von Krisen. Früher hatten wir es mit klar abgegrenzten Ereignissen zu tun: ein Brand, ein IT-Ausfall, ein Lieferant, der ausfällt. Heute überlagern sich geopolitische Spannungen, Energie- und Lieferkettenrisiken, Cyberangriffe, Klimaextreme, Personalmangel und ein hochdynamischer Informationsraum. Diese Verdichtung macht Krisen kaum noch planbar – und zwingt Organisationen, anders zu denken.
Inwiefern anders?
Wir verabschieden uns zunehmend von der Idee, jede Krise mit einem eigenen Plan beherrschen zu können. Klassische Krisenordner vermitteln Struktur, aber sie ersetzen keine Handlungsfähigkeit. Entscheidend ist heute die Fähigkeit, unter Unsicherheit zu arbeiten: ein gemeinsames Lagebild zu entwickeln, funktionsübergreifend zu entscheiden und auch bei unklarer Datenlage handlungsfähig zu bleiben. Das ist eine Fähigkeitenfrage und keine Frage der Dokumente.
„Die größten Verwundbarkeiten entstehen dort, wo Effizienz Puffer verdrängt hat.“
Wo sehen Sie im Moment die größten Risiken für Unternehmen?
An den Schnittstellen. Viele Organisationen sind in den vergangenen Jahren extrem effizient geworden, aber genau diese Effizienz hat Puffer und Redundanzen verdrängt. Das fällt spätestens dann ins Gewicht, wenn eine einzige Komponente ausfällt und eine Kaskade von Problemen auslöst.
Ein weiterer Punkt sind Abhängigkeiten, die oft unterschätzt werden: von einzelnen Lieferanten, kritischen Cloud-Dienstleistern oder spezifischen Rohstoffen. Wenn dort etwas schiefgeht, sind die Auswirkungen gewaltig.
Und dann gibt es das menschliche Element. In vielen Unternehmen hängt Schlüsselwissen an einzelnen Personen. Diese „Single Points of Failure“ sind eines der unterschätztesten Risiken überhaupt. Ebenso entscheidend ist die Kultur: Wenn Mitarbeitende sich nicht trauen, Probleme anzusprechen, verliert die Organisation ihre wichtigste Krisenfrüherkennung.
„Resilienz zeigt sich daran, wie Organisationen mit der Realität umgehen – nicht daran, wie viele Pläne sie haben.“
Woran erkennen Sie, dass ein Unternehmen wirklich resilient ist?
An seinem Umgang mit Störungen. Resiliente Unternehmen verstehen Vorfälle als Lernanlässe – und zwar ernsthaft. Die Frage lautet nicht: „Wer war schuld?“, sondern: „Was sagt uns dieser Vorfall über unsere Strukturen, unsere Kommunikation oder unsere Prioritäten?“
Sie erkennen auch schwache Signale, beispielsweise irritierende Messwerte, Hinweise aus der Belegschaft, technische Auffälligkeiten. Fast jede größere Krise kündigt sich an. Wer diese Frühindikatoren wahrnimmt, gewinnt Zeit und Handlungsspielräume.
Und schließlich ist Resilienz immer eine Führungsfrage. Wenn Führungskräfte Resilienz als strategisches Thema begreifen, fließt sie in Investitionsentscheidungen, Governance-Fragen und Prioritäten ein. Dann ist ein wichtiger Reifegrad erreicht.
„Die Resilienzdividende wirkt jeden Tag – nicht nur im Krisenfall.“
Eines Ihrer kommenden Seminare beim BVSW befasst sich mit der Resilienzdividende. Was ist damit gemeint?
Die Resilienzdividende beschreibt den doppelten Ertrag aus Investitionen in Sicherheit und Widerstandsfähigkeit.
Die erste Ebene ist die klassische Schutzfunktion: weniger Ausfallzeiten, weniger Vertragsstrafen, stabilere Lieferfähigkeit, geringeres Reputationsrisiko. Das lässt sich durch Szenarioanalysen, Business-Impact-Analysen oder Wiederanlaufzeiten genau beziffern.
Die zweite Ebene ist strategischer und oft viel wirksamer: Resilienz schafft Leistungsfähigkeit im Alltag.
Wenn Mitarbeitende cross-trainiert sind, steigt nicht nur die Ausfallsicherheit, sondern auch die Flexibilität in der täglichen Arbeit. Resilientere Lieferketten schaffen Marktvorteile, weil man liefern kann, wenn andere es nicht können. Und Transparenz über Abhängigkeiten legt häufig Ineffizienzen offen, die man sonst nie erkannt hätte.
Diese Kombination aus Verlustvermeidung und Leistungssteigerung macht die Resilienzdividende so wertvoll. Sie wirkt nicht nur im Notfall, sondern in jeder Phase des Geschäftsbetriebs.
„Ein starker Krisenkern ist wertvoller als ein großer Krisenstab.“
Wie bauen Unternehmen ein wirksames Krisenmanagement auf, ohne große Strukturen entwickeln zu müssen?
Durch Fokus und Konsequenz. Ein kleiner, klar definierter Krisenkern ist oft effektiver als ein großer, aber untrainierter Krisenstab. Rollen müssen eindeutig sein, Entscheidungswege klar, Schnittstellen zu IT, Fachbereichen und externen Partnern vorbereitet.
Regelmäßige Übungen sind entscheidend. Dabei geht es nicht um große Inszenierungen, sondern um kurze, realistische Formate. Schon zwei Stunden pro Quartal zeigen, wo Informationen hängenbleiben oder Prioritäten unklar sind.
Und: Komplexität ist der Feind der Krise. Dinge wie kurze Action-Cards, vorbereitete Kontaktlisten oder klare Prioritäten sind im Ernstfall wertvoller als umfangreiche Handbücher.
„Standards sind Landkarten – nicht Zielbilder.“
Viele Führungskräfte fühlen sich von Normen und Regulierung überfordert. Wie sollte man damit umgehen?
Standards wie ISO 27001, ISO 22301 oder die neue 22372 für Security and Resilience geben eine wichtige Richtung vor, ebenso wie die Anforderungen aus NIS2 und KRITIS. Aber sie sind kein Selbstzweck. Unternehmen sollten sie als Orientierung nutzen und pragmatisch übersetzen: Zuerst die größten Verwundbarkeiten angehen, dann schrittweise ausbauen. Ein iteratives Vorgehen verhindert Überforderung und erzeugt echten Nutzen.
Resilienz entsteht dort, wo Standards gelebt werden, nicht dort, wo sie abgeheftet werden.
„In der Krise entscheidet der Mensch – nicht die Technik.“
Wie wichtig ist der menschliche Faktor in der Krisenbewältigung?
Er ist zentral. Technik unterstützt, aber am Ende entscheiden Menschen, ob eine Organisation handlungsfähig bleibt. Gute Führung schafft Orientierung, klare Prioritäten und Vertrauen. Eine offene Kultur ermöglicht, dass Fehler angesprochen und schwache Signale geteilt werden. Und Kommunikation, sowohl intern als auch extern, entscheidet darüber, ob Vertrauen aufgebaut oder zerstört wird.
Wir sehen es immer wieder: Zwei Unternehmen mit ähnlicher Ausstattung performen im Ernstfall völlig unterschiedlich, abhängig von Führung und Kultur. Genau deshalb ist die Resilienzdividende immer auch eine Kulturdividende.
„Wenn Führungskräfte nur eines tun sollen: einmal im Monat den Mut zur Realität.“
Wenn Sie einem Geschäftsführer eine einzige Maßnahme empfehlen dürften, welche wäre das?
Eine monatliche „Was-wäre-wenn“-Stunde. Eine Stunde, in der die Führung gemeinsam durchdenkt, was passieren würde, wenn ein kritischer Lieferant ausfällt, die IT stillsteht oder das Unternehmen plötzlich Reputationsdruck erlebt. Ohne PowerPoint, ohne große Inszenierung.
Diese Routine schafft ein gemeinsames Lageverständnis, deckt Schwachstellen auf und verankert Resilienz im Denken derer, die im Ernstfall entscheiden müssen. Genau dort beginnt nachhaltige Resilienz.

Unsere BVSW-Seminarreihe:
Professionelles Krisenmanagement mit Organisationsentwicklungsfokus
Termin: 23.3.2026 – 27.03.2026
Format: 5-tägiger Präsenzlehrgang mit Workshopelementen
Zielgruppe: Angehende und aktive Krisenmanager, Referenten und Sachbearbeiter, die mit dem Thema betraut sind, BCM- oder Resilienzverantwortliche, Führungskräfte, die ihre Krisenkompetenzen und -festigkeit ausbauen möchten
Krisenmanagement & Resilienz-Dividende
Termin: 03.03.2026, 13:00 Uhr – 16:00 Uhr
Format: online, 3 Stunden
Zielgruppe: Geschäftsführer, Inhaber, Vorstände und Top-Entscheider mit Verantwortung für Krisenmanagement, Business Continuity und Resilienz